Gittersee


… ist zunächst mal ein Roman (von Charlotte Gneuß), den ich nicht gelesen habe. Kommt noch, vielleicht. Angeblich erregt er Erregung im “Literaturbetrieb”, so schreiben einige Fäuletongs, wobei das vermutlich sie selber meint. “Darf sie das?”, d.h. einen in der DDR angesiedelten Roman schreiben, wo sie doch da und damals nie gelebt hat?! Die einfache Antwort auf eine schlecht gestellte Frage: na klar darf sie das. Kann sie es? – das ist eventuell, je nach Maßstab, etwas anderes. Hier mal ein Vergleich: vor vielen Jahren als der erste Band einer Buchreihe mit dem Titelhelden Harry Potter erschien, erzählte mir mein Englisch- und Übersetzungslehrer James Fanning von seinem Leseerlebnis. Er hatte sich die billigere amerikanische Ausgabe geholt, die hieß H.P. and the Sorcerer’s Stone und nicht wie das britische Original H.P. and the Philosopher’s Stone. Das war verkraftbar. James gefiel der Ton der Erzählerin – Mittelklasse, authentisch (oder so) nannte er das. Bis auf einmal im Text das Wort sneakers für Turnschuhe auftauchte. Damit war der britisch-englisch klingende Text dahin. Ein amerikanischer Eindringling hatte die trainers des Originals verdrängt (d.h. der amerikanische Verlag hatte das veranlasst), und für meinen sprachbewussten Lehrer-Freund war der Text an der Stelle nicht mehr von der gleichen Qualität. Das Buch musste er nicht verbrennen, auch J.K. Rowling nicht verklagen oder einen shitstorm anzetteln (das gab’s auch noch nicht damals, wäre aber auch nicht seine Art) – nein, er wusste, dass er beim nächsten Mal keine amerikanische Parallelausgabe kaufen würde.

Zurück zu Gittersee. Ich habe es, wie gesagt, nicht gelesen. Ingo Schulze hat auf sprachlich-sachliche Unkorrektheiten verwiesen (und ansonsten das Buch sehr gelobt) – Unkorrektheiten, weil der eine oder andere Begriff bzw. die eine oder andere Sache gemäß des lebenden Gedächtnisses einiger derer, die in der DDR bzw. Dresden gelebt haben, so in der DDR nicht vorkamen.. Ich finde die Kritik berechtigt, nur den Sturm nicht, der dann irgendwie zu der Frage “Darf die das?” führte. Die Diskussion ließe sich aber erweitern, und ich rege zur (west- wie ostdeutschen) Selbstreflexion an: was ist eigentlich mit all den Krimiserien, die seit ein paar Jahren in Bozen, Kroatien, Zürich (nun gut) usw. spielen? Wieso sprechen da alle, und geben sich alle, deutsch? Was mich tatsächlich echt irritiert, wenn in einem Tatort oder Polizeiruf aus Leipzig o.ä. niemand lokales Deutsch spricht. Das wird den meist realistischen Konventionen der Serien nicht gerecht. Und das ist mein Maßstab: welchen Anspruch stellt Autorin, stellt das Buch an sich?

Nochmal also zu Gittersee: ein paar der Dinge, die von Ingo Schulze bemängelt wurden, hätte ich vermutlich nicht bemerkt – entweder, weil ich sie nie auf dem Radar hatte oder weil ich sie vergessen habe. Es käme auf den Rest des Buches an, ob es mich überzeugt (so wie der Tonfall von Saša Stanišićs Vor dem Fest mich überzeugt hat – und der ist sowas von nicht-ostdeutsch und kann sowas von gut [ost-]deutsch erzählen!). Dennoch: bei einem Buch mit Anspruch sollten Lektoren mit einer Liste kritischer Punkte wie der von Ingo Schulze zur Stelle sein, um ein Buch, das es wert ist, noch wertvoller zu machen. Der überzeugende Tonfall, die überzeugende, packende, bewegende Story machen zunächst mal den Wert eines Buches aus. Übrigens auch in guten Übersetzungen, die – das liegt in der Natur der Übersetzung – hoffentlich den Tonfall wiedergeben können, jedoch in der Regel nicht den “korrekten” Wortlaut. Sachliche “Unkorrektheiten” sollten unbedingt bemängelt werden – es sei denn, sie passen als dichterische Freiheiten zum Sujet des Buches. Dass man in der dreckigen Elbe 1976 nicht mehr baden konnte (einer der Kritikpunkte), war bei uns (ich bin Magdeburger) echt Thema. Mein Vater erzählte immer wieder mal, wie das anders war in seiner Kindheit.

Nichts davon hat – in meinen Augen – irgendwas mit kultureller Aneignung zu tun. Es gibt aber andere Fälle – ich hatte vor Monaten bereits Alan Poseners Olli aus Ossiland erwähnt. In dem Buch, das voller Plattitüden über “Ossiland” ist, wird Dresden etwa bei Chemnitz lokalisiert, usw. Und das ist ganz offiziell “Deutsche Lektüre für das GER-Niveau A2-B1 (Teen Readers (DaF))”. Gruselig, und es schnuppert reichlich nach kulturellem Kolonialismus.

Vielleicht lese ich Gittersee nun tatsächlich. Und dann kann das Buch für sich sprechen – und damit dann auch für seine Autorin, Charlotte Gneuß (zum glück mit ß – das nur für Insider – you know when you know 😉 ).

P.S. Vor vielen Jahren habe ich Annett Gröschner erlebt, die aus Moskauer Eis las. Ich kannte das Buch noch nicht, aber nach zehn Minuten dämmerte mir, dass es in Magdeburg, meiner Heimatstadt, spielen muss – auch wenn der Name nie fiel. Die Atmosphäre, die Beschreibung einiger Straßenzüge, die Dialoge – ich konnte Magdeburg “erfühlen”. Später, beim Bier, stellte sich raus, dass a) meine Vermutung richtig war, und b) Annett und ich an der selben EOS waren, den selben berüchtigten Mathelehrer hatten (Herr Bessel …), usw. Vielleicht brauchen wir einen Gattungsbegriff für Texte, deren Atmosphäre so überzeugend verdichtet wurde.

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